Authentische Sichtbarkeit
ist ein grosses Schlagwort in unserer Zeit, so oft verwendet, dass es sich schon ein bisschen abgenutzt anfühlt. Doch in Coaching-Kreisen gehört es zum guten Ton, zum Repertoire. Jeder will es haben.
Die Suche nach meiner eigenen Stimme:
Meine Stimme habe ich ein halbes Leben lang gesucht, mit viel Aufwand und Einsatz. In meinen Ausbildungen, wenn ich mit anderem im Kreis sass und es darum ging, von mir zu berichten, fing das grosse Kopfzerbrechen an. Was sollte ich sagen, wie sollte ich es sagen, was war wichtig?
Ich wollte so viel..... Ich wollte verletzlich, authentisch, erleuchtet, reflektiert sein. ich wollte sympathisch, ehrlich, entspannt sein. Ich wollte Menschen bewegen, berühren. Ich wollte die Fähigkeit haben, mehr von mir mit der Welt zu teilen. So dass es bei anderen ankommt.
Auch in meinem Business wollte ich so viel. Ich wollte so sein wie die grossen Speaker. Brilliant. Innovativ. Aber wenn ich mich in einem Video sah, konnte ich fast nicht hingucken. Ich machte dutzende von Aufnahmen von einem Thema und hatte an jeder etwas auszusetzen. Ich habe mich damit wirklich zerfleischt.
Also suchte ich meine eigene Stimme sprichwörtlich rund um die Welt. In einer Schauspielschule, in Sprechausbildungen, mit Gesangsunterricht, mit Rhetorik, in Business Coachings, in Storytelling Workshops.
Ich lernte eine Menge Dinge: meine Stimme zu modulieren. Ich lernte Texte auswendig und wie man Emotionen innerlich erzeugt und vermittelt. Ich las von Telepromptern ab. Aber nichts davon gab mir das Gefühl, meine Stimme gefunden zu haben. Das Problem, das ich lange nicht sehen konnte, lag woanders: Ich konnte mir nicht vorstellen, so zu sein, wie ich bin. Und dass dies genügen würde, weil es die Stimme war, die mit mir verbunden ist.
Im Rückblick verstehe ich viel besser, warum meine Suche so anstrengend und erfolglos war. Ich lernte, besser zu performen.
Doch das was ich wollte, ohne es damals benennen zu können:
Ich wollte mehr aus meinem Sein heraus sprechen können.
Ich wollte die Erfahrung machen, mich nicht mehr so anzustrengen.
Ich wollte mein Herz, meine Wahrheit und meinen Bauch nicht mehr einziehen für die Anerkennung im aussen. Ich wollte sagen, was mir am Herzen liegt. Ich wollte mein Wissen in Worte, Bilder und Modelle bringen, die ehrlich, hilfreich und wahr sind. Ohne mich anzuzweifeln oder für das was ich sage, nachher innerlich zu martern.
Heute verstehe ich authentische Sichtbarkeit so:
- Wenn wir über unser Thema reden, sind wir mit uns verbunden – unseren Gefühlen, unserem Körper. Wir haben Zugang zu der Wahrheit des Moments - das was real in uns vorgeht. Egal ob es Aufregung, innerer Nebel, Freude oder Unsicherheit ist.
- Unser autonomes Nervensystem ist reguliert. Das heisst, dass wir rein physiologisch in der Lage sind, mit anderen in echten Kontakt zu treten.
- Wir können unsere Wahrheit und unsere Sicht auf unser Leadership-Thema teilen. Vor allem, wenn wir anders denken und ticken wie die meisten in unserer Branche.
- Wir können zeigen, wer wir sind und wie wir eine Situation erleben, unabhängig davon, wie das bei anderen ankommt.
- Wir versuchen nicht, jemand anders sein, oder Dinge versprechen, an die wir selbst nicht wirklich glauben.
- Wir erlauben uns, unperfekt und gut genug zu sein.
Das Gegenteil von authentischer Sichtbarkeit ist nicht Lügen, sondern Performance
- Wir strengen uns an und haben unseren Fokus auf der Resonanz im Aussen.
- Wir sagen Dinge, von denen wir glauben, dass sie von uns erwartet werden.
- Wir verhalten uns so, dass wir gemocht werden. Nicht zu viel, nicht zu laut, nicht dumm, nicht zu klug, nicht zu arrogant….Wir machen es so wie die andern.
- Wir sind nicht mit unserem Körper und unseren Gefühlen oder unserer inneren Führung und der eigenen Wahrheit verbunden.
- Unser autonomes Nervensystem ist nicht reguliert. Das heisst, wir sind rein physiologisch in einem Überlebensprogramm und nicht in der Lage, andere realistisch wahrzunehmen oder in echten Kontakt zu treten. Im Prinzip sind wir in einer eigenen, kleinen Blase gefangen.
- Unsere Energie ist vor allem im Kopf, wir sind mit richtig machen beschäftigt, wir performen "Authentizität" und unser innerer Kritiker führt Regie.
Das Performance-Problem trifft auch die Superstars
Die schmerzliche innere Spaltung zwischen Performance und authentischer Stimme / Sichtbarkeit ist in allen Dimensionen von Erfolg und Bekanntheit zu finden. Vor kurzem sah ich auf Netflix eine Reportage über Taylor Swift. Eine der erfolgreichsten amerikanischen Popkünstlerinnen. Sie beschreibt darin ihre eigene Erfahrung mit Performen und Anpassung: Wie sie jahrelang die Dinge tat, die Applaus bringen, das tat, was erwartet wurde. Das nette Mädchen sein. Und dass es eine epische Krise brauchte, um aus dieser Form von Anpassung aufzuwachen. Um die eigene Stimme zu finden und sie wirklich nutzen zu können für Themen, die ihr am Herzen liegen. Sei es politisch, sozial oder kulturell.
Wie funktioniert Performance?
1. Wir leben in einer Anpassungs / Performance Kultur. Wir lernen das im Elternhaus, in den Schulen und Universitäten und in unserer Jobs. Wir leben nicht in einer Welt, in der unabhängiges Denken und Handeln gefördert und wertgeschätzt wird.
2. Wenn ich im Performance-Modus bin, versuche ich das Verhalten, das gerade angesagt ist, zu performen. Dann versuche ich Verletzlichkeit, Mitgefühl, Erwachen zu rüberzubringen, selbst wenn ich mich gerade ganz anders fühle.
Ich performe, wenn ich nicht mit mir verbunden bin.
Ich performe, wenn ich Angst habe.
3. Wir performen, wenn wir es richtig machen wollen.
Denn wenn wir es vermeintlich richtig machen, können wir die Reaktionen anderer kontrollieren. Richtig machen = dazugehören sich sicher anfühlen.
Wir leben in einer Welt, die Anpassung belohnt.
4. Das Umfeld ist entscheidend. Deine inneren Vorstellungen von authentischer Sichtbarkeit sind geprägt von dem jeweiligen Umfeld, in dem du dich bewegst. Für jedes Umfeld gibt es andere Dinge, die besonders wertgeschätzt, gehypt, belohnt werden. Deshalb hast du vermutlich andere Ansprüche an dich, wenn du mit deiner Familie zusammensitzt, in einem Berufsverband, mit deiner besten Freundin, in deinem Business oder in einer therapeutischen Fortbildung. Ansprüche, die wir unbewusst an uns stellen, wirken als innerer Kritiker. Dein inneres Kontrollteam, das dafür sorgt, dass du dich regelkonform verhältst.
Vor kurzem las ich einen Beitrag über Authentizität von einem Mann, der sich als spiritueller Lehrer versteht. Hier ist seine Aussage: "Authentizität ist nichts als die nackte Wahrheit. Sie beugt sich vor keiner Unwahrheit. Sie bekennt sich zu ihrer Wahrheit, unabhängig davon, was die Konsequenzen sind."
Obwohl das im Prinzip als Ideal richtig ist, im gelebten Leben mit unseren Überlebensmechanismen ist das ein Konzept, welches sofort zur neuen Messlatte der Performance wird: Ich muss, ich muss, ich muss die Wahrheit sagen!!
Das Problem ist, dass wir unsere Wahrheit oft nicht fühlen und verstehen können, wenn unser Körper in fight, flight, freeze oder appease Modus ist.
In dem Zustand sind wir so sehr mit funktionieren und überleben beschäftigt, dass wir nicht erkennen können, wie viel Angst im Spiel ist und dass wir unsere Umwelt nicht mehr neutral sehen können. In der Situation werden wir performen oder uns zusammenfalten und das wird sich beides als sehr wahr anfühlen.
Wie gelingt authentische Sichtbarkeit auf eine gute Art und Weise?
- Du darfst (und musst) gute Grenzen haben und passendes Umfeld. Authentische Sichtbarkeit braucht einen Raum, in dem das vor allem am Anfang ein sicheres Unterfangen ist und nicht zu erneuter Verletzung führt. Wir haben unsere eigene Stimme verloren, weil wir zu viel Beschämung damit erlebt haben. Wenn du heute Dinge teilst, die dich verletzlich machen, ist es ok, damit in einem geschützten Raum damit zu beginnen, so dass du nicht aus deiner inneren Anbindung heraus und in einen Überlebensmechanismus hineinrutschst.
- Entweder bist du mit deinem Thema so sattelfest, dass dich auch heftiger Gegenwind nicht mehr von deiner eigenen Wahrnehmung entkoppeln kann. Oder du erlaubst dir Grenzen im Umgang mit bestimmten Menschen. Zum Beispiel, in dem du über Dinge sprichst, die sinnbildlich nicht mehr bluten und schon gut zugeheilt sind. Wenn du nicht sicher bist, wie rüttelfest du bist, kannst du vorher mit Freunden einen Belastungstest machen. Erprobe es vorher, prüfe, ob es dich aus den Socken haut, wenn jemand deine Beiträge nicht mag.
- Sorge gut für dich auf Social Media. Themen können authentisch, verletzlich, sehr persönlich sein, aber in der Internet-Welt brauchst du Stabilität damit. Die Polarisierung und die ungehemmten Schlammschlachten lassen mich immer wieder staunen. Ich erlebe, dass Menschen, die ich nicht kenne, Posts von mir mit dem einen Satz: «Ich muss mal kotzen gehen» kommentieren. Posts, die in meinen Augen sachlich sind. Aber Haten und Shaming haben ein ganz anderes Ziel als Kritik. Da geht es darum, eine Person zu entwerten, sie zu diskriminieren und zu beschämen.
- Sei wachsam in Bezug auf Objektbeziehungen mit deinen Lesern und Klienten. Objektbeziehung bedeutet, dass ich dich nicht neutral und unabhängig sehen kann, sondern dass ich dich als Objekt für meine Identität und Stabilität brauche. Wenn du unbedingt eine positive Reaktion und Bestätigung brauchst, um dich mit dem Thema stabil zu fühlen, mach das zuerst im Rahmen von Freundenkreisen, Mastermindgruppen oder Coaching. Wenn du persönliche Dinge mit vielen Lesern teilst, dann prüfe zuerst deine Ausrichtung und Absicht. Mach es, weil es ein Ausdruck deiner Klarheit und Power ist, weil es ein wichtiger Beitrag für unser Bewusstsein ist. Weil es eine Information ist, die wichtig für deine Zielgruppe ist. Aber wenn du dich verletzlich machst mit der Absicht, dafür gemocht zu werden, sitzt du im falschen Abenteuer mit den Lesern.
- Wer zählt wirklich? Wenn du Reaktionen bekommst, die du nicht erwartet hättest, dann frag dich, wie relevant die Meinung dieser Menschen ist. Würdest du dein Leben für diese Menschen umstellen, weil du ihre Meinung als zutiefst wahr und relevant empfindest? Ich finde Brene Browns Methode super, um mir ganz klar zu werden, wessen Meinung in meinem Leben wirklich wichtig ist. Suche 1-3 Personen, deren Feedback du wirklich ernst nehmen würdest. Ihre Namen sollten auf einer Briefmarke / einem Minizettel Platz haben. Das sind Menschen, denen du traust, die integer sind, die dich kennen und mögen, die dein Bestes wollen, die deine Werte teilen. Wenn diese Menschen dir sagen, dass du auf dem Holzweg bist, dass du deine Werte verrätst, dann ist das relevant. Wenn andere Menschen, die nicht auf deiner Briefmarke Platz haben, dich kritisieren oder gar angreifen, shamen, dann ist die Information auf einer professionellen Ebene zwar interessant, aber es sind nicht die Menschen, deren Ansprüche / deren Ärger du als Person erfüllen musst.
- Der Verletzlichkeits-Kater miaut bestimmt. Geh davon aus, dass du einen emotionalen Kater haben wirst, wenn du einen neuen, mutigen Schritt mit deiner Authentizität machst. Wenn du etwas teilst, das du so noch nie öffentlich gemacht hast. Wenn du Tabus brichst. Meist kommt der innere Kritiker im Schlepptau hinterher und wir haben Gedanken wie: "Hätte ich das wirklich sagen sollen, habe ich es so gesagt, wie ich es sagen wollte, werden mir die Leute glauben, Gott, ich habe so viel vergessen… was werden meine Freunde / Kollegen / Kunden sagen… "
- Es ist ok, dass es einen Unterschied gibt zwischen authentischer Sichtbarkeit in deinem Privatleben und deinem Business. Das betrifft die Themen, deine Erwartungshaltung, dein Sicherheitsbedürfnis und deine innere Stabilität mit dem Thema. Privat kannst du mehr Unsicherheit und Verletzlichkeit zulassen. Aber wenn Menschen nicht zuhören können, schnell auf Ratschläge ausweichen oder an dir rummäkeln, also nicht wirklich im Kontakt sind mit dir, gibt es keine Regel die besagt, dass Authentizität masochistisch sein sollte.
Was bedeutet es für mich, authentisch in meinem Business zu erscheinen:
- Ich spreche Tabuthemen aus meiner Branche an und kann damit entspannt bleiben. Ich unterliege nicht den üblichen Stories und Verhaltensweisen meiner Branche.
- Ich achte darauf, dass ich in einem reguliertem Zustand bin in meinen Workshops und meinen Coachings. Wenn das nicht der Fall ist, führt mein innerer Kritiker Regie.
- Ich bin ehrlich über meinen eigenen Weg, die Schwierigkeiten und wie lange etwas dauert.
- ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann
- ich erlaube mir, alles von mir mit ins Boot zu nehmen. Meine ganze Geschichte und vor allem die Themen, die mein innerer Kritiker gerne bewertet - anstatt in der Angst zu leben, dass Menschen herausfinden, wer ich wirklich bin.
- ich erlaube mir Grenzen zu setzen mit Themen und Menschen.
Was mir geholfen hat, mich nicht mehr völlig verrückt zu machen
mit meiner Sichtbarkeit und besonders mit meinen Videos
- Ich habe meine Ziele geändert um meinen inneren Kritiker auszuschalten. Und mir erst mal erlaubt, mindestens 100 lausige Videos zu machen ohne darauf zu gucken, ob andere meine Sachen gut finden.
- Ich habe mich anfangs völlig auf den Inhalt konzentriert und mir Narrenfreiheit gegeben was mein Aussehen betraf - verschwitzt in Yogaklamotten war gut genug.
- Wenn ich mich versprochen habe, habe ich trotzdem weitergemacht, anstatt endlos viele Aufnahmen zu machen in der Hoffnung, dass eine davon perfekt ist. Gut genug war genug.
- ich hab mich reduziert und die Vorstellung losgelassen, ich müsste alles, was ich weiss in einen Blog oder ein Video packen. Ein, zwei oder drei Punkte, das reicht.
Anregungen für dich zum erforschen:
- Werde dir klar über deine Vorstellungen und deine innere Messlatte zum Thema Authentizität. Welchen inneren Autoritäten versuchst du, gerecht zu werden? Je nach dem in welchen Kreisen du unterwegs bist, hat das eine eigene Färbung. Beispiele
- muss es tränenreich, emotional und verletzlich sein (erlebe ich oft in einem therapeutisch geprägten Umfeld)
- muss es erfolgreich, cool sein, high vibrational und rhetorisch brillant sein (mehr so das Tony Robbins Aroma oder Gedanken Tanken)
- muss es transzendent, bewusst, erleuchtet sein, voller Mitgefühl…so das Yoga Aroma
- muss es sinnlich, atmend, duftend, schwingend sein(das Tantra-Aroma)
- Was sind die Tabuthemen sind in diesem Programm vorhanden. Was ist verboten, was darf nicht passieren?
- Was ist es, was du wirklich sagen willst? Für welche Themen willst du deine Stimme erheben, welche Werte sind dir zutiefst wichtig, was hast du für Grenzen und was wäre, wenn du samt allen Gefühlen und allen Ähs in deiner Aussprache einfach gut genug wärst?
- Was brauchst du, um dir mehr Freiheit und machbare Schritte zu geben, um deine Wahrheit mit der Welt zu teilen?
Mehr Übungen wie du deine ganz eigene Stimme findest,
bekommst du im kostenlosen Workshop:
Umbruch, Aufbruch & Neuerfindung.
Dort zeige ich dir, wie Embodiment funktioniert und wie du mehr mit dir selbst verbunden bleiben kannst, wenn du in der Welt erscheinst.